Zum Inhalt springen
Dirk Kurbjuweit

Die Lage am Morgen Merkel stört, ist aber beliebt

Dirk Kurbjuweit
Von Dirk Kurbjuweit, Autor im SPIEGEL-Hauptstadtbüro

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen!

Heute beschäftigen wir uns mit der unwürdigen Endphase einer langen Kanzlerschaft, mit der Ästhetik des Brutalen und mit Christine Lieberknechts kurzem Auftritt.

Bittere Bilanz

Wie fühlt sich eigentlich Angela Merkel in dieser Situation? Sie würde diese Frage sofort zurückweisen und sagen, es kommt überhaupt nicht darauf an, wie sie sich fühlt, sondern es gebe eine interessante Lage, mit der sie umzugehen habe.

Schauen wir uns einmal ihre Lage an, zunächst die für Merkel unangenehmen Seiten:

  • Ihre Kandidatin für die eigene Nachfolge, Annegret Kramp-Karrenbauer, ist gescheitert, auch an Merkel, an der seltsamen Aufteilung von Parteivorsitz und Kanzlerschaft. In dieser Konstellation konnte Kramp-Karrenbauer auf keinen Fall Autorität entfalten. Am Ende wurde sie sogar von der Kanzlerin düpiert, die von Südafrika aus CDU und FDP zur Ordnung rief.

  • Es mehren sich die Stimmen derer, die fordern, dass Merkel endlich das Feld räumt, damit ein Aufbruch möglich wird und sich der neue Parteivorsitzende entfalten kann. Sie ist im Weg, stört, nervt.

  • Zwei der bislang vier Kandidaten sind die beiden einzigen Spitzenpolitiker, denen sie einst einen Fußtritt verpasst hatte, Friedrich Merz als Fraktionsvorsitzender und Norbert Röttgen als Umweltminister. Ihnen könnte nun die späte Rache gelingen.

  • Bislang haben nur Männer Interesse bekundet. Merkel hatte aber den Plan, nicht nur erste Bundeskanzlerin zu sein, sondern auch noch selbst für die zweite zu sorgen, als Absage an die Männerpartei CDU.

  • Sie muss nun häufig von der Spaltung ihrer Partei lesen, von der Zerreißprobe, gar vom Kampf ums Überleben als Volkspartei. Das hat auch mit ihrer Entscheidung zu tun, 2015 die deutschen Grenzen offen zu halten. Auch das Desaster von Thüringen hat seine tieferen Ursachen dort, weil die AfD davon profitiert hat.

  • Auch die Spätphase der langjährigen Kanzler Konrad Adenauer und Helmut Kohl war schwierig. Auch sie waren im Weg und haben genervt. Aber mit der Zeit geriet das weitgehend in Vergessenheit, weil sie historische Taten vorzuweisen hatten, Adenauer die Westbindung, Kohl die deutsche Einheit. Merkels auffälligste Tat, die Flüchtlingspolitik, hat diese Dimension nicht.

Die angenehmen Seiten:

  • Sie genießt noch immer hohe Zustimmungsraten in der Bevölkerung.

  • Sie kann sich das Gerangel der Kandidaten in aller Ruhe anschauen. Sie ist die Kanzlerin und ist kaum zu verdrängen.

Alles in allem kann das aber kaum noch ein schönes, würdevolles Ende einer langen Kanzlerschaft werden. 

Heute muss die Kanzlerin das alles abschütteln und gute Nerven zeigen. Mit den anderen Staats- und Regierungschefs verhandelt sie in Brüssel über die mittelfristige EU-Haushaltsplanung, und die Lage ist so vertrackt wie lange nicht mehr. Man ist sich nicht einig, wie hoch der Anteil des jeweiligen Budgetbeitrags an der nationalen Wirtschaftsleistung sein soll. Die einen, Schweden, Finnland, Österreich, die Niederlande, sagen: Ein Prozent ist genug. Eine größere Gruppe verlangt einen höheren Beitrag. Merkel will einen Kompromiss finden. Sicher ist aber, dass Deutschland mehr zahlen muss als bisher, schon weil die Beiträge von Großbritannien fehlen.

Verschobene Hüften

Eigentlich müsste ich mich jetzt mit Film befassen, denn heute beginnt die Berlinale. Aber mich lässt im Moment ein Theaterstück nicht los, das ich kürzlich im Deutschen Theater gesehen habe, "4.48 Psychose" von Sarah Kane, in der Inszenierung von Ulrich Rasche. Er ist der Regisseur der Stunde, er hat eine eigene Ästhetik geschaffen, wie zuvor Christoph Marthaler die Ästhetik des Stillen oder Herbert Fritsch die Ästhetik des Bunten.

Bei Rasche ist es die Ästhetik des Brutalen. Er lässt seine Figuren im Gleichschritt über die Bühne marschieren und dabei merkwürdig die Hüften verschieben, er lässt sie mehr deklamieren als sprechen, und ansonsten sind sie weitgehend leblos, Soldaten in Rasches martialischer Welt. Dazu wummert ein düsterer Sound, der auch von der Band Rammstein stammen könnte. So war das in "4.48 Psychose", so war das in "Das große Heft".

Warum hat das Bildungsbürgertum daran eine so große Freude? Das ist mir ein Rätsel (wobei auch eine Menge Leute zwischendurch das Theater verlassen, in "Das große Heft" rief jemand zur Pause: "Grässlich!"). Und ist es ein Zufall, dass dies in einer Zeit passiert, in der die AfD in das Bürgertum eingedrungen ist? Mir ist noch nicht klar, wie der Zusammenhang ist, wenn es einen gibt. Aber irgendwas ist hier merkwürdig.

Podcast Cover

Gewinnerin des Tages...

...ist Christine Lieberknecht. Die ehemalige Ministerpräsidentin hat sich in Thüringen auf einen Vorschlag von Bodo Ramelow eingelassen, wie man mit ihrer Hilfe rasch zu Neuwahlen kommen kann, weil sie rasche Neuwahlen für richtig hält. Sie hat sich nicht von ihrer Partei, der CDU, einspannen lassen, als die Ramelows Vorschlag so veränderte, dass man mit Lieberknechts Hilfe Neuwahlen hinauszögern kann. Sie hat Haltung gezeigt.

Die jüngsten Meldungen aus der Nacht

Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.

Ihr Dirk Kurbjuweit

Abonnieren bei

Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt erneut.