Franka Lu ist eine chinesische Journalistin und Unternehmerin. Sie arbeitet in China und Deutschland. In dieser ZEIT-ONLINE-Serie berichtet sie kritisch über Leben, Kultur und Alltag in China. Um ihr berufliches und privates Umfeld zu schützen, schreibt sie unter einem Pseudonym.

Auf dem scheinbaren Höhepunkt seiner Machtfülle wird das mächtigste autoritäre Regime der Welt von einem Virus erschüttert. Dieses Land, die Volksrepublik China unter Xi Jinping, ist auf dem Weg, weltweit führend zu werden bei der Entwicklung von Quantencomputern und künstlicher Intelligenz, es verfügt über hervorragende Telekommunikationstechnologie, die schnellsten Züge der Welt, bestens ausgebildete Beamte und eine angesehene Virenforschung. Doch das alles kümmert das neue Coronavirus wenig.

Dessen Ausbreitung legt die Schwachstellen des Systems nun gnadenlos bloß. Das bürokratische Gesundheitssystem Chinas war auf einen solchen Fall offenkundig nicht vorbereitet. Überlastete Krankenhäuser wiesen Patientinnen und Patienten ab, anfangs schlecht geschützte Ärzte und Pfleger erkrankten selbst an dem Coronavirus. Und die Frage ist längst, wobei die chinesische Zentralregierung in den zurückliegenden Wochen eigentlich effizienter war: bei der Kontrolle des Krankheitsausbruchs – oder eher bei der Kontrolle der Bevölkerung und des Informationsflusses?

In Zeiten von Social Media gerade auch in China, wo WeChat und Weibo statt Facebook und Twitter die großen Plattformen sind, zeigt sich jetzt: Informationen, die von Nutzerinnen und Nutzern sozial-medial geteilt werden, lassen sich mit den Mitteln der Zensur und also Löschung nur bedingt kontrollieren. Diese Userinnen stammen besonders aus der jüngeren, in den Achtzigerjahren oder danach geborenen Generation, deren Mitglieder ein derartiges Chaos noch nie erlebt haben. Diese Jüngeren sind in den wirtschaftlich glücklichsten Jahrzehnten der chinesischen Geschichte aufgewachsen und haben von dem wachsenden Wohlstand profitiert, den vor allem ihre Eltern erarbeitet haben, und der sich in weiten Teilen der Globalisierung verdankt, von der China so beispiellos profitiert hat als Produktionsstandort. Diese jungen Chinesinnen und Chinesen haben den kommunistischen Autoritäten bislang weitgehend vertraut. Deren mangelhafte Reaktion auf die Bedrohung durch das neue Coronavirus erschüttert nun diesen Glauben.

Die Lücke, die mangelhaftes Behördenhandeln lässt

In der Krise mobilisieren die Jüngeren eine bisher nicht gekannte Energie zur Selbsthilfe – und sie organisieren diese ebenfalls oft über soziale Medien. Sie besorgen Atemschutzmasken und bringen sie Krankenhäusern; sie stellen medizinischem Personal Autos zur Verfügung; sie helfen Alten und Kranken, die zu Hause festsitzen, und versuchen, Flüchtlinge aus Hubei zu unterstützen. Unter großen Anstrengungen bemüht sich die Zivilgesellschaft, die Lücke zu füllen, die mangelhaftes Handeln der Behörden und deren offenkundige Überforderung angesichts des Virusausbruchs lässt.

Die Existenz von Social-Media-Plattformen ermöglicht zugleich noch etwas ganz anderes: Gerade dank ihnen lässt sich der Versuch unternehmen, die Geschehnisse seit dem Auftauchen des neuen Coronavirus in China zu rekonstruieren, wie sie in den staatlichen Medien weitgehend nicht berichtet wurden; auch ein Bericht von Human Rights Watch, der am 30. Januar veröffentlicht wurde, stützt diese Recherchen. Diese zeigen, wie ungenügend oder gar verschleiernd die Behörden auf lokaler wie zentralstaatlicher Ebene bis mindestens Mitte Januar gehandelt haben.

Die Geschichte der Ausbreitung dieses Virus begann vor knapp anderthalb Monaten wie viele Katastrophen in China – als Gerücht. Als Mitte, Ende Dezember in der 14-Millionen-Stadt Wuhan in einem Krankenhaus zunehmend Patienten mit identischen Symptomen eintrafen, meldeten die Ärzte die Fälle dem lokalen Zentrum für Krankheitsvorsorge, einer halbamtlichen Stelle. Social-Media-Posts zufolge erschienen deren Beamten am 27. Dezember "sehr ungeduldig" im dortigen Krankenhaus und hörten sich die Bedenken der Ärzte mit großem Widerwillen an.

Drei Tage später, am 30. Dezember 2019, kommunizierte diese Vorsorgebehörde intern, dass alle Krankenhäuser auf eine "unbekannte Lungenerkrankung" vorzubereiten seien, wobei es den Ärztinnen und Ärzten "streng verboten" sei, Informationen an die Öffentlichkeit zu geben. Auch die Behörde selbst informierte die Öffentlichkeit nicht. Ärzte, die nicht direkt in den Abteilungen für Fieber- und Lungenkrankheiten arbeiteten, wurden über den möglichen Ernst der Lage im Dunkeln gelassen – sie waren daher im Umgang mit möglichen Corona-Patienten ungeschützt. Wie ernst die Lage tatsächlich war, erlebten viele von ihnen später am eigenen Leib.

Am Nachmittag und Abend dieses Tages posteten mehrere Ärzte aus verschiedenen Krankenhäusern in ihren Chatgruppen und auf WeChat Diagnosen ihrer Patienten und drückten ihre Besorgnis über die Untätigkeit der Vorsorgebehörde aus. Sie warnten Kolleginnen und Kollegen vor den Gefahren, die von dem örtlichen Fisch- und Wildtiermarkt ausgingen, der bald schon als Ausbruchsort vermutet wurde. Auch erklärten Ärzte da schon, die Symptome der sich ausbreitenden Lungenerkrankung erinnerten an die von Sars, die hochansteckende, lebensbedrohliche Infektionskrankheit, die sich Ende 2002, Anfang 2003 von Südchina aus verbreitet hatte. Diese Information und die interne Behördenkommunikation gelangten an die Öffentlichkeit, Screenshots aus den Chats verbreiteten sich viral. Auf Weibo fingen User an, das Hashtag WuhanSARS zu benutzen. Ihre Posts wurden rasch von der Zensur gelöscht.